„Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht eher, bis sie sich nicht Gehör verschafft hat“ (Sigmund Freud.)
Mein Weg zur Psychoanalyse begann schon in meiner frühen Kindheit, avant la lettre. Weniger als 3 Jahre nach Kriegsende geboren, erlebte ich, wie so viele meiner Generation, in meiner Herkunftsfamilie ein Gespinst aus Wut, Schmerzen, Angst, Abenteuerlust, Lebens- und Sinnenfreude, das zu meiner tief empfundenen Verwirrung über Schweigen und Lügen vieler geliebter Menschen führte: psychologische Phänomene, die einem Kind zwar kognitiv unverständlich, aber intuitiv, als von Frage- und Erkenntnistabus umzäunt, erfassbar sind.
Diese Erkenntnisverbote zu entschlüsseln und sie mir intellektuell und emotionell zugänglich zu machen, war der Ursprung meines Interesses an der psychoanalytischen Psychotherapie.
Hineingeboren in eine Familie, die sich als solche nur aufgrund meiner allseits unerwünschten Existenz konstituieren musste – meine Mutter war mit einem jüdischen US-Offizier verlobt, als sie von einem Innsbrucker Studienkollegen schwanger wurde, eine bereits geplante Abtreibung ablehnte und meinen Vater in spe zum Entsetzen ihrer Brüder heiratete, - in meinen ersten sechs prägenden Lebensjahren aufgewachsen inmitten einer bombenzerstörten Tiroler Kleinstadt, erlebte ich im Hause meiner verwitweten italienisch-marranischen Großmutter, die unterschiedlichsten Personengruppen in und um dieses Haus in der Wörgler Bahnhofstraße:
Kommunisten und Kommunistinnen, die quasi in letzter Minute dem Schafott entkommen, Sozialdemokraten, die aus dem KZ Dachau befreit worden waren, NS- TäterInnen, die 1945 für einige Monate auf der Kufsteiner Festung eingesperrt gewesen waren, ehemalige Mitläufer, die von Hitler als „Adolf dem Ersten“ sprachen, Befreite aus dem Wörgler Lager für „Mischlinge ersten Grades“, verzweifelte Kriegsinvaliden, die sich nach Zigarettenstummeln bückten, es gab die Repräsentanten der französischen Besatzungsmacht in ihren attraktiven Uniformen, bitterarme ostpreußische Flüchtlingsfamilien in den Baracken des ehemaligen Nazi-Lagers, hübsche junge Frauen in selbstgeschneiderten Kostümen auf der Suche nach einem geeigneten Heiratskandidaten.
Die Wörgler Jüdinnen und Juden waren beraubt, vertrieben oder ermordet worden, darunter die beste Freundin meiner Mutter. Nun gab es Mangel und Not für fast alle, die sich wechselseitig irgendwie ertragen mussten...In unserem Hof hielten wir Hühner und Hasen, die Wohnungsmieter, teilweise noch während des Krieges einquartiert, drängten sich auf kleinstem Raum,außerdem gab es im Haus eine Schusterei, deren duftende Lederstücke meine bevorzugten Spielsachen waren, es gab italienische Opern und Literatur zu Hause und schneidige Blasmusik vor unseren Fenstern mit den herabgelassenen Jalousien.
Italienisch war eine Art Geheimsprache zwischen mir und meiner Großmutter, die als Nachfahrin Trentiner Irredentisten die „tedeschi“ so leidenschaftlich hasste, wie es sich für Familie Calvi gehörte und die sich herzlich über die deutsche Niederlage gefreut hatte.
Zu meiner Geburt war ihre Mutter Irina triumphierend aus der Provinz Brescia erschienen, 3 Generationen italienischer Damen – meine Urgroßmutter, Großmutter und Mutter – stöckelten elegant durch die Bombenruinen, mit mir als vierter Generation im Kinderwagen.
Im Laufe meiner früheren Kindheit wurde ich Teil einer Gruppe von Bauern- und Eisenbahnerkindern, die frei in Stadt, Feldern und Wald herumschweifen durften, unsere bevorzugten Spielplätze waren der Wörgler Zugbahnhof und das Sägewerk meiner Schwiegerverwandten. Mein einäugiger Vater nahm meine Mutter und mich zu Motorradausflügen nach Bayern und über den Brenner mit, zu dritt auf einem wackeligen Bike, wir drei ohne Helm, Schutzanzug und Brillen, ich unter dem weiten Mantel meiner Mutter verborgen, die Beine angezogen, die Schmuggelware am Leib versteckt.
Es gab kein Fernsehen, kein Telefon, kaum Radio, kein Auto, kein fließendes Wasser in der Wohnung, keine Waschmaschine und keine Heizung. Bücher und Schallplatten waren unerschwinglich teuer, Zeitungen wurden am schulischen Arbeitsplatz meines Vaters gelesen. Die benachbarten Bäuerinnen brannten Schnaps, um ihre Männer ruhig zu stellen und der Schwarzhandel dominierte die Einkäufe.
Von den 8 Zimmern unserer Wohnung wurden nur 4 genützt: die Küche, wo sich alle in einer Schüssel wuschen und sich zum Essen versammelten, das Schlafzimmer meiner Eltern, mein Kinderzimmer und ein gemeinsames Zimmer für Großmutter und Onkel. Die anderen Räume dienten der Repräsentation und blieben ungenutzt, alle Zimmer waren die meiste Zeit hindurch eiskalt.
Die Hitlerbilder waren schon im Frühjahr 1945 kurz vor dem Einmarsch der amerikanischen Befreiungsarmee von den Tiroler Wänden genommen worden: der helle Fleck wurde aber bei uns, die wir keiner religiösen Denomination angehörten,nicht wie in vielen Haushalten in einen Herrgottswinkel rückverwandelt, sondern unter pompösen Familienfotos verborgen, die eine heile Vorkriegswelt vorspiegeln sollten.
Später sollte ich erfahren, dass auf diesen Porträts einige mütterliche Familienmitglieder fehlten: 3 Großtanten und ein Großonkel, deren Existenzen gelöscht und deren Namen nicht mehr erwähnt wurden.
Jahrzehnte danach begann dann mein eigenes Verständnis einer zerrissenen und teils über die eigene Herkunftsgeschichte verstummten Familie, der auch Bildung und Wohlstand nicht zu mehr Einsicht in die eigene Gewordenheit verholfen hatten. Und nachdem ich mich lange Zeit von meiner Ursprungsfamilie distanziert hatte, wuchs im Laufe meiner psychoanalytischen Ausbildung und Lebenserfahrung auch mein Mitgefühl für sie und mein Wunsch nach Versöhnung.
Beides zusammen, Wissen und nicht-urteilende Empathie sind auch unabdingbare Voraussetzungen für die Arbeit mit Menschen, wie ich sie praktiziere.